Ansprache: Sind wir noch ganz dicht?
MehrWegGottesdienst
Sind wir noch ganz dicht?
Ehrlich: Das haben wir uns bei der Vorbereitung dieses Gottesdienstes auch des öfteren gefragt. Wie jedes Mal eigentlich: Warum haben wir uns nur dieses Thema ausgesucht? Vielleicht sollten wir mal von der Tradition wegkommen, die Themen fürs kommende Jahr in unserer Adventssitzung mit Glühweinunterstützung auszusuchen. Nein, also hackedicht waren wir nicht, die meisten mussten ja noch Auto fahren. Aber wüssten Sie ein halbes Jahr später noch, wie Sie auf so ein Thema gekommen sind?
Egal – uns ist, wie immer, eigentlich viel zu viel eingefallen dazu.
Ach nee, so wird das nix. Das interessiert die doch nicht, was wir im Team für Probleme hatten, und außerdem war das letztes Mal schon in der Ansprache. Also.
Zweiter Anlauf.
Sind wir noch ganz dicht? Nein, wahrscheinlich nicht.
Wir müssen uns doch nur umsehen, dann haben wir den Beweis: Wir sind nicht ganz dicht.
Die Erde steuert unaufhaltsam auf einen Klimakollaps zu. In manchen Städten auch bei uns ist die Luft so schlecht, dass sie krank macht. Hitzewellen und schwere Unwetter nehmen immer mehr zu. Und wir? Wir fahren weiter mit dem Auto, fliegen in den Urlaub, nutzen energiefressende Klimaanlagen und und und, als würde uns das alles gar nichts angehen. Wir wissen das alles und handeln doch aus Bequemlichkeit gegen unsere eigenen Interessen und vor allem unserer Kinder und Enkel. Sind wir noch ganz dicht?
Ein halber Kontinent versinkt in Krieg und Chaos. Ausgerechnet das Zweistromland, heute Syrien und Irak, das die Bibel als den „Garten Eden“ beschreibt – es ist zur Hölle geworden. Millionen sind auf der Flucht, zusätzlich zu denen, die aus Afrika kommen, weil sie in ihrer Heimat keine Chance mehr sehen, ihre Kinder zu ernähren. Sie sind so verzweifelt, dass sie die größten Gefahren auf sich nehmen. Weg, nur weg. Einige davon, nur ein Bruchteil, versucht, sich nach Europa durchzuschlagen. Und wir? Diskutieren wir jetzt ernsthaft in unserem Land, ob es besser ist, Menschenleben zu retten oder sie einfach ertrinken zu lassen? Sind wir noch ganz dicht?
Oh nein, ist das jetzt negativ geworden. Das wollte ich doch eigentlich gar nicht. Ich wollte einen fröhlichen, sommerlichen Gottesdienst, nicht so was Schweres. Also nochmal von vorn.
Dritter Anlauf.
Sind wir noch ganz dicht?
Warum sollten wir denn eigentlich? Wer sagt denn, dass wir immer ganz dicht sein müssen?
Vielleicht müssen wir manchmal eben genau das Gegenteil sein. Sozusagen ein bisschen undicht sein. Neue Wege gehen. Neues ausprobieren und auch was neues wagen. Widerstände überwinden. Nicht nur im großen Weltgeschehen, sonder ganz klein, bei uns selbst, in unserem Leben.
Was möchtest du selbst gerne ändern, in deinem eigenen Leben? Wo würdest du gerne mal völlig aus dem Rahmen fallen? Aus welchen undichten Löchern soll das Leben bei dir fließen?
Wo willst du etwas ganz anders machen als man es von dir erwartet? Einfach, weil es schön ist, weil es Spaß macht oder weil es spannend ist? Oder vielleicht auch, weil es zwar schwer ist, aber gut für andere?
Träumst du davon, anders zu sein? Dich anders zu kleiden vielleicht. Eine andere Arbeit zu machen.
Ein Buch zu schreiben. Oder ein Lied.
Was Neues zu lernen, eine Sprache, eine Sportart, ein Instrument. Auf jemanden zuzugehen, der dich schon lange interessiert.
Oder sogar auszuwandern, alles hinter dir zu lassen, von vorn zu beginnen. Dein Leben radikal umzukrempeln oder nur eine Kleinigkeit zu verändern. Mehr Löcher und Lücken im Leben zuzulassen, aus denen das Leben fließt?
Warum tust du es nicht? Hast du Angst vor den Reaktionen der anderen? Angst vor Fehlern? Angst davor, ausgeschlossen zu werden oder ausgelacht? Angst davor, zu scheitern? Angst davor, dass andere urteilen:
„Der oder die ist doch nicht ganz dicht“? Trau dich, undicht zu sein. Sei anders.
Jesus war auch anders. Von ihm haben viele gesagt: Der ist doch nicht ganz dicht. Als Fresser und Weinsäufer haben sie ihn verlacht. Als komischen
Geschichtenerzähler. Und manchmal hatten sie wohl auch einfach Angst vor ihm.
Ja, das mit der Angst ist vielleicht das größte Problem: Undicht sein macht Angst. Mir selbst, wenn ich versuche, Dinge anders zu machen. Den anderen, die auf Ungewohntes stoßen und es vielleicht ablehnen. Doch Jesus verspricht: Ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende. Hab keine Angst. Fürchte dich nicht.
Also: Trau dich, anders zu sein! Trau dich, verrückt zu sein! Trau dich, du selbst zu sein. Lass die Lücken zu im Leben. Die Löcher, aus denen das Leben fließt.
Nur eine einzige Regel gibt es, die solltest du immer, wirklich immer beachten. Und diese Regel – das ist die Liebe. So wichtig es ist, auch mal undicht zu sein, verrückt zu sein, Neues zu machen: Die Liebe ist es, die uns wieder erdet. Die Liebe zu den Menschen um uns herum, die uns sagt: Wir sind eben nicht allein. Was wir tun, hat Auswirkungen auf andere. „Ich hätte grade mal Lust, das Nachbarhaus anzuzünden“ geht eben gerade nicht. Das ist nicht gemeint. Aber abgesehen davon, ist vieles möglich. Karlheinz Böhm hielten sicher auch viele für nicht ganz dicht, damals, als er aus einer Wette in Wetten dass heraus sein ganzes Leben umkrempelte und nach Äthiopien ging. Vielleicht bräuchten wir wieder mehr Mutige, die die Probleme der Welt angehen. Den Hunger, Die Kriege. Die Millionen auf der Flucht. Es scheint völlig unmöglich zu sein, da was zu ändern. Aber es reicht, wenn ein, zwei Leute sich anstecken lassen von der Liebe, der Zuwendung zu allen Menschen in Not. So, wie Jesus es praktizierte. Dann fließt aus den undichten Stellen das Leben und die Liebe.
„Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“, so heißt es beim Propheten Amos einmal. An einer Stelle, an der Amos in Gottes Namen darüber wettert, dass sein Volk trotz aller Not in der Welt ungerührt Gottesdienste feiert, als wäre nichts geschehen. (Am 5,21-24)
Also: Seid undicht. Mach eure undichten Stellen groß. Lasst das Leben strömen, die Liebe, das Recht, die Gerechtigkeit. Geht neue Wege, im Großen und im Kleinen. Seid fröhlich und liebevoll in dem, was ihr tut. Und lasst durch alle diese undichten Stelle die Liebe fließen wie einen nie versiegenden Bach.
Amen.